Die Geschichte von Gong, dem Bangkoker Straßenköter, der seine Freunde an der Lauf-Tonart erkennt.
Diese Geschichte aus dem TIP Führer Bangkok erschien in ihrer ersten Fassung im Juni 2006 im TIP. Sie können dazu hier einen Kommentar abgeben: http://forum.thailandtip.info/index.php?topic=1504.msg1031410#msg1031410
Von Hans Michael Hensel
Bangkok. ก้อง gÔ:ng Gong ist der Chef in unserer Soi. Zu allen ihm gefälligen Zeiten liegt er vorzugsweise exakt in der Mitte der Straße und absolut jeder, wirklich jeder, fährt oder läuft vorsichtig um ihn herum. Auch Fremde — egal ob im Toyota oder Benz —, die doch eigentlich gar nicht wissen können, daß er hier der Chef ist, stoppen ehrfurchtsvoll vor dem Alphatier, wenn kein Platz zum Ausweichen ist.
Dann dauert es meist seine Zeit, bis Gong geruht, aufzustehen. Hupen verzögert die nun folgende Prozedur:
Erst streckt er sich ausgiebig vor dem 20 Zentimeter entfernten Kühler der in sein Reich eingedrungenen Kutsche und gähnt, während er dem Fahrer sein Hinterteil zuwendet, um dann, nachdem er sich mit dem rechten Hinterbein den Nacken hinterm linken Ohr gekratzt hat (oder so ähnlich jedenfalls), außerordentlich würdevoll von dannen zu schreiten: In Fahrtrichtung des Eindringlings und kaum merkbar schräg, so daß er noch mindestens zehn Meter weit die Straße beherrscht. Nach weiteren 17 oder vielleicht auch 18 Sekunden ist dann die Straße ohne Unfallgefahr passierbar.
Gong ist ein Bangkoker Straßenköter, von dem man viel darüber lernen kann, wie dieses Land funktioniert.
Sie können das selbst testen, allerdings nur, wenn Sie, wie Gong, ein Alphatier sind: Falls Ja, müßten Sie dann, wenn Sie z. B. im Royal Hotel residieren, vergleichsweise in der Th. Ratchadamnœn gemessenen Schrittes würdevoll im dichten Verkehr über die zehnspurige königliche Prachtstraße schreiten. Jeder wird Ihnen selbstverständlich schon 200 Meter vorher weiträumig ausweichen oder, wenn das nicht geht, mit großzügigem Sicherheitsabstand vor Ihnen anhalten. Und Sie dann selbstverständlich mit einer freundichen Geste weiter über die Straße komplimentieren. Beobachten Sie dagegen mal die Betas, die an gleicher Stelle sogar bei Grün auf dem Zebrastreifen verzweifelt händchenhaltend in Todesangst auf die andere Seite hetzen: Viele Autofahrer machen sich noch einen Spaß draus, indem sie — das Bild des hier allgegenwärtigen gütigen Herrschers hin oder her — noch extra Gas geben.
Falls der obige Test in die Hose geht: Tut mir furchtbar leid, dann waren Sie leider doch kein Alphatier. Nach Desmond Morris haben ja unter Herdentieren nur immer maximal etwa fünf Prozent der Individuen das Zeug zum Alpha. Geben Sie also nicht mir die Schuld an Ihrer mangelhaften Wirkung!
Aber zurück zur Geschichte: Ich hatte das außerordentliche Glück, schon gewisse ältere Rechte zu haben, als Gong vor Jahren geruhte, sich in unserer Soi niederzulassen. Im Gegensatz zu einigen immer nur vorübergehend hier wohnenden Langnasen duldet er mich nämlich großzügig, obwohl er mich noch nie eines Blickes gewürdigt hat; ja, Gong öffnet nicht einmal die Augen, und noch nicht mal ein Ohr zuckte je, wenn ich vorsichtig um ihn herumlaufe oder fahre.
Gong ist aber trotz seiner Macht großzügig und weltoffen. Er lebt und läßt leben; ja, er hat sogar eine soziale Ader. Mit den Jungs von der Müllabfuhr hat er zum Beispiel — ich wette! — eine stillschweigende Abmachung: Wenn Dienstags und Freitags ein gewisser Dieselmotor mit dem statt Auspuff direkt angeschweißten Kanonenrohr (klingt jedenfalls so) näher kommt, bleibt Gong nämlich erst recht liegen. Ich habe noch nie gesehen, daß die Mannschaft des Wagens dann auch nur versucht hätte, ihn zu stören. Im Gegenteil: Man zündet sich lächelnd eine Zigarette an, nutzt die Zeit zu einem Schwatz, und nach zwei oder auch mal vier Minuten, wenn Gong was anderes einfällt — was sich eben für ein Alphatier so geziemt —, geht es schon weiter.
Jahrelang rätselte ich, warum Gong bei mir nie eine Reaktion zeigt, er aber bei anderen Ausländern sofort hellwach ist und von Anfang an (im besten Falle schnuppernd, manchmal aber auch schon mal unfreundlich knurrend) deutlich macht, wessen Revier hier betreten wird.
Ich hab’s genau beobachtet: Selbst ein Europäer in Schnürschuhen mit Gummisohle, der gegen die Windrichtung in die Soi läuft, wird schon auf spätestens 80 Meter Entfernung bemerkt, sogar wenn Gong eben noch döste und die Schnauze in die Gegenrichtung zeigte. Ebenso wird der Nachbarjunge, der ihm öfter mal was zum Fressen gibt, auf diese Weise freudig erkannt und begrüßt, wenn er von der Schule kommt. Auch werden unbekannte Lo-So Thais, die das erste Mal in der Soi sind, zuverlässig verbellt, während Gong den Eismann, alle fliegenden Nudelsuppenfahrer, ja sogar den Postboten und die Yakult-Verkäuferin der holden Gattin vollkommen ignoriert.
Wir alle lieben Gong und möchten den nützlichen Köter nicht missen. Vor allem Nachts kündigt er zuverlässig jeden Neuling schon auf 150 Meter Entfernung an. – Aber wie macht er das, wenn er ihn weder sehen noch riechen kann?
Ich bin mir ganz sicher: Gong ist eben hundertprozentig Thai und erkennt seine Pappenheimer schon an der Schlurf-Tonart.
Nach jahrelanger Beobachtung habe ich folgende Geräusche eindeutig identifiziert, die Gong – wie wohl alle seine Brüder in Bangkok auch – ganz automatisch richtig zuordnet:
1. Gummilatschen-Schlurfen:
tschíb … tschíb … tschíb … tschíb … tschíb … tschíb… (hoherTon).
Einordnung:
Thai, Lo So (so nennt man hier das Gegenteil der Hi So, also der High Society), männlich jeden Alters oder weiblich älteren Semesters; aber auch weibliche Mid So Angestellte (jeden Alters) auf dem Heimweg, die ihre Büroschuhe mit den hohen Hacken in der Firma stehenließen.
Reaktion:
Wachsamkeitsstufe 1 (weiterdösen, aber ein Ohr in Geräuschrichtung; Nase auf Erkennung). Nach 22 Uhr bei unbekannter Schlurfmelodie in tschíb-tschíb-Standart-Tonhöhe jedoch zumindest mal hören, was die Beta-Köter aus der näheren Umgebung dazu vorausmelden.
2. Schnürschuh-Schlurfen:
Rrrrpbp … rrrrpbp … rrrrpbp … rrrrpbp … rrrrpbp … (tiefer Ton).
Einordnung:
Thai, Mid So, Werktätiger, zum Beispiel Stromableser oder Prospektverteiler, mit festen Schuhen, die üblicherweise nur einmal im Schuh-Leben geschnürt werden (im Schuhgeschäft, wo man diese Kunst beherrscht) und deshalb wunderbar schlurfen, besonders mit ’runtergetretener Ferse.
Reaktion:
Tagsüber weiterdösen und nachts … aber, mit Verlaub: was denken Sie! Mid-So-Thais sind nachts nie zu Fuß in irgendwelchen Sois unterwegs!
3. Hackstöckles-Schlurfen:
Klack … klack-grrrrrp … klack-klack-klack … klack … klack-grrrrrp-klack … klack … klack-klack-grrrrrp-klack (wiederkehrender Ton).
Einordnung:
Thai, weiblich, Mid So mit 50 prozentiger Chance auf einen ausländischen Ehemann oder 20 prozentiger Chance auf Hi So Thai-Ehemann: Studentin, die beim Hackstöckles-Schlufen noch ihren männlichen Fanclub per Mobile koordiniert.
Reaktion: Kurz anschnuppern (riecht fast immer ausgesprochen gut) und weiterdösen.
4. Jesuslatschen-Watscheln:
glitsch … glatsch … glitsch … glatsch … glitsch … glatsch … (Töne wechselnd, absolut undefinierbar und unharmonisch).
Einordnung:
Ausländer (nicht mal angedeutetes Schlurfen!); jedoch kein Bewohner dieser Soi. Farang Hippie oder zumindest Cheap-Charlie-Ausländer in Khaosan-Uniform, der sich in unsere Wohngegend verirrt hat.
Reaktion:
Sofort sämtliche Straßenköter zwischen Bangkapi und Minburi alarmieren. Das gibt sicher wieder mal einen Riesenspaß für die Jungs!
Was lernen wir daraus? Wenn Sie oft in alberner bunter Touristenuniform mit Jesuslatschen oder Breitsandalen ’rumrennen, aber trotzdem gerne Abenteuer-Ausflüge machen und dabei schon mal Probleme mit hiesigen Straßenkötern hatten: Versuchen Sie’s mal mit Schlurfen statt Watscheln! Schlurfen wirkt manchmal fast so gut wie ein Wai! Wenn Sie auch den korrekten Schlurfton garantiert nicht treffen, so wird doch selbst der patriotischste Thai-Köter Ihren guten Willen, die Kultur des Landes zu verinnerlichen, wohlwollend würdigen – und Sie im besten Falle vielleicht sogar ignorieren.
Über weitere Ergebnisse meiner Bangkoker Schlurf-, Watschel- und Straßenköterforschung wird an dieser Stelle noch berichtet. Sie werden auch in künftige Auflagen des TIP Führers Bangkok einfließen. Wenn der Verlag mitmacht, könnte ich mir etwa eine Spezialkarte von Bangkok vorstellen, in der von der fiesesten Straßenköter-Clique in der Sukumwit Soi 2 bis zu den 60 friedlichen Tempelhunden im Wat Sri Prawat am Klong Maha Sawat (wie man hinkommt: Seite 245) alles verzeichnet ist, was sehenswert ist.
Widmen werde ich das neue Kapitel auf jeden Fall Gong, ohne dessen Vorbild ich nie draufgekommen wäre, wie man als Alphatier auf Bangkoks Hauptstraßen überlebt: Sobald er aus unserer Soi geht, nimmt er nämlich trotz vorhandener Ampel grundsätzlich die Überführung über die bei uns achtspurige Th. Serithai, um zum Beispiel mal die Beta-Jungs auf der anderen Seite aufzumischen.
Auch Alphas leben in Bangkok nämlich länger, wenn Sie außerhalb ihres Reviers im Zweifel immer erst mal davon ausgehen, daß irgendein blöder Beta-Thai am Steuer vielleicht doch nicht schnell genug kapiert, wer hier Alpha ist…
Nachtrag
Auch Alphatiere altern. Gong hat inzwischen den grauen Star, weil er wohl zu oft in der hellen Straßenmitte lag, und auch die Beta-Köter auf der anderen Straßenseite mischt er nicht mehr auf, zumindest dann nicht, wenn er alleine über den Fußgänger-Überweg läuft.
Chef ist er nur noch in unserer Soi, wo es, von zwei fiesen Großkötern eines noch fieseren Großköterhalters ganz hinten in der Soi abgesehen, derzeit nur brave Stuben- und Schoßhündchen gibt. Außerdem hat man ihn vor einiger Zeit einmal in der Nachbarsoi wahrscheinlich mit einem Knüppel arg zugerichtet, obwohl es auch ein Unfall mit einem Auto gewesen sein könnte. Er sah schlimm aus; konnte kaum noch laufen.
Darauf haben ihn unsere Nachbarn drei Häuser weiter adoptiert und unter Anteilnahme und Futterspenden fast der gesamten Soi liebevoll wieder aufgepäppelt. Zum Glück waren wohl nur ein paar Rippen angebrochen, so daß Gong inzwischen wenigstens wieder gerade läuft.
Er erhält jetzt sein Gnadenbrot und auch gelegentlich ein paar Streicheleinheiten der Kinder, die er erkennbar genießt. Zudem ist inzwischen bekannt, daß er sozusagen „berühmt“ ist und sogar schon in der Zeitung war.
Ich hoffe, es geht mir auch mal so gut, wenn der Spätherbst des Lebens anbricht, vorausgesetzt, daß mir überhaupt mal einer das Gnadenbrot gibt…