„Geschichtslehre macht Thais dumm und selbstbezogen“

pch Bangkok. Thongchai ist Professor für südostasiatische Geschichte an der Universität von Wisconsin-Madison. Er forscht derzeit über die Entstehung des modernen Siam (1880er-1930er Jahre) und arbeitet an einem Buch mit Erinnerungen an das Jahr 1976, als monarchistischer Mob gemeinsam mit dem Militär, darunter eigens aus Huahin eingeflogene königliche Elitetruppen, auf dem Campus der Thammasat Universität in der Innenstadt ein bis heute unaufgearbeitetes Massaker mit wahrscheinlich Hunderten Toten an friedlich demonstrierenden Studenten anrichtete.
Über die bemerkenswerte Rede berichtete vor allem
ประชาไท Prachathai ausführlich.

Schon eingangs warnte er das Publikum in der Universität, an der er selbst studiert hat, dass seine Worte für manche Zuhörer nicht angenehm klingen würden.

Thongchai beklagte die seiner Ansicht nach engstirnige Art des Geschichtsunterrichts für Thais. Dies habe Unwissenheit, ein ungerechtfertigtes Überheblichkeitsgefühl bezüglich der eigenen Geschichte und löchriges Wissen über die unmittelbaren Nachbarn zur Folge.

Extremer Zentrismus im Geschichtsunterricht und eine narzisstische Grundhaltung über das Wesen und die Herkunft der Thais ist nach Ansicht des Geschichtsexperten ein Zeichen des gescheiterten Bildungssystems im Land.

Er forderte einen ehrlichen, kritischen und integrierten Geschichtsunterricht, um echtes Wissen zu vermitteln: „Thailand ist ein Teil Südostasiens, kein einzigartiger Diamant in dieser Region, als solcher funkelt er nur in den Köpfen der Thais“, sagte Thongchai.

Er brachte die Thai-Geschichte in einen größeren Zusammenhang mit Untersuchungen über Südostasien zur Kolonialzeit und stellte fest, dass das Wissen über Thailand und Südostasien, so wie es in Thailand gelehrt und gelernt wird, bislang durch einen extremen Selbstbezug („Thai Zentrismus“) charakterisiert sei. Als Folge daraus ergäbe sich „dürftiges Wissen über andere und uns selbst.“

Thongchai fuhr fort:„Wir wissen nichts über die Welt, wir wissen nichts über unsere Nachbarn. Wir wissen nichts, weil wir unglaublich Thai-orientiert sind.“ Unter anderem glaubten Thais an ihre besondere Überlegenheit, weil sie nie kolonialisiert worden seien. Der Historiker schließt daraus, dass den Thais beigebracht worden sei, ihr Land in einem idealisierten Bild wahrzunehmen: ein in einer ländlichen Agrargesellschaft verwurzeltes Land, das „den Frieden, die Ruhe und die Harmonie liebt“. Obwohl sich die Zeit geändert habe und neue Herausforderungen an dieses etablierte nationale Ideal herangetreten seien, sei das geschichtliche Wissen und die Selbstwahrnehmung der Thais gleich geblieben.

Zur Lösung des Problems forderte Thongchai die Studenten unter anderem auf, auch vom Vergleich mit den Nachbarländern objektiv zu lernen. Es bedeute nicht, dass man Stolz verliere, weil man in Thailand über andere lernt, sagte er.

„Wir können stolz sein auf unsere Heimat, weil es unsere Heimat ist, weil wir sie lieben und uns um sie sorgen. Es ist aber nicht angebracht, zu glauben, dass wir im Vergleich zu anderen Völkern überlegene und außergewöhnliche Menschen seien.“

Zum Beispiel könne jeder, der einmal in Bagan in Birma gewesen sei, sofort sehen, wie unbedeutend Ayutthaya im Vergleich dazu war. Wer Bagan, Mandalay oder Ava gesehen hat, den würde es nicht mehr wundern, daß die Birmanen zweimal Ayutthaya erobert haben. Es besteht kein Anlaß, sich zu rühmen, dass Thailand nie wie Birma kolonisiert wurde, weil die Voraussetzungen für jedes Land zu dem Zeitpunkt anders waren. Es besteht keine Notwendigkeit, an einer Idee der besonderen Größe Thailands festzuhalten.

Thongchai empfahl, Borobudur und Angkor Wat zu besuchen, „um zu staunen und zu erkennen, dass das, was Thailand ausmacht, nichts außergewöhnliches ist “. Die Gesellschaft habe es den Thais nicht vermittelt, auch die Erfolge und Größe der Nachbarn anzuerkennen, sagte er.

Thongchai hält den Thai-Zentrismus – und damit die alte hierarchisch aufgebaute Gesellschaft, die es nicht geschafft hat, ihren Mitgliedern ein weltliches, breites und gut abgerundetes Wissen zu vermitteln, für überholt. Wenn dieser Zentrismus einmal einen Zweck während des Kalten Krieges gehabt hat, sei diese Ära nun längst vorbei.

In Thailands Gesellschaft sei jeder gehalten, seinen Platz zu kennen, sagte Thongchai. Disziplin würde überbetont, deshalb gäbe es in den Schulen gewisse Regeln wie über die Haarlänge und die Uniform, obwohl es keine objektiven Gründe mehr dafür gebe. Der einzige denkbare verbliebene Grund sei vielleicht der, „eine Bevölkerung zu produzieren, die sich der Macht beugt“.  Aber genau diese Art des gesellschaftlichen Miteinanders würde Thailand schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr benötigen. Diese antiquierten Vorstellungen wurden vielmehr verwendet, um Menschen auf einem Stand zu halten, der schon seit Langem überholt sei.

Als erste konkrete Verbesserungsmaßnahme schlug Professor Thongchai vor, mit Unterrichtsmodellen zu experimentieren, wie sie in anderen Ländern Südostasiens, etwa in Singapur in Gebrauch sind.

Vielleicht in einer Generation, so hofft er, könnte sich diese neue Art des Lernens, die für ehrliche Selbsterkenntnis, flexibles kritisches Denken und anpassungsfähige Medienkompetenz stehe, durchgesetzt haben. Sie könnte eine neue Art von Bildung ermöglichen, die nicht durch die zentrische Thai-Weltsicht verkümmert sei.