Chronologie der Grenze
in der Umgebung von Preah Vihear / Prasat Preah Viharn
Ein Bericht aus dem TIP-Forum
Vor der Ankunft der Kolonialmächte in Süd-Ost-Asien gab es keine markierten und kartografierten Grenzen zwischen den Ländern. Die Geografie wurde durch Einflussbereiche der Königshäuser beherrscht. Es gab keine Grenzsteine oder gedachte Linien, die bezeugten, man befinde sich nur einen Schritt weiter in Laos, Kambodscha, Siam, Malaysia oder Burma.
Die Übergänge von einem Einflussbereich zum anderen waren fließend. Nicht selten waren Ansiedlungen in den Randzonen zwei Königshäusern tributpflichtig. Heilige Stätte in diesen Übergangszonen wurden gemeinsam genutzt. Besonders diejenigen, die sich an sog. Wasserscheiden befanden.
Preah Vihear liegt genau an solch einer Wasserscheide. Nämlich am Rande des Korat Plateaus, welches den Dangrek Gebirgszug bildet. Dieses Plateau hat hier seine südliche Bruchkante und die fällt steil zu einer 500 Meter tiefer liegenden Ebene ab. Solche auffälligen Klippen waren in früheren Zeiten oft Anlass, eine spirituelle Anlage zu errichten, in der man den Geistern oder Göttern Respekt erwies, ehe man die Wasserscheide überschritt. Sie markierten schließlich den Übergang von einer Welt in eine andere. Unsere heutige nüchterne Betrachtungsweise, dass solch eine Klippe ja nur eine interessante topologische Naturerscheinung sei, war den Menschen damals fremd. Für sie war der Übergang von einer Landschaftsform in eine andere beseelt mit Respekt gebietenden Wesen, die man um Erlaubnis bat und ehrte, ehe man die eine verließ und die andere betrat.
Khmers und Siamesen nutzten Preah Vihear gemeinsam oder je nach Anlass getrennt, falls die Festlichkeit für den anderen keine Bedeutung hatte. Aber zu jeder Zeit begegneten sich dort die Wanderer zwischen den Welten aus beiden Richtungen. Die Frage, wem denn nun diese Anlage gehöre, wäre auf Unverständnis gestossen. Die Antwort auf die Frage, wer sie denn erbaut habe, mag von Interesse gewesen sein. Aber das nur am Rande.
1431 – 1867 Kambodscha oder Teile dieses Landes sind im Wechsel mit Vietnam und Spanien über 400 Jahre ein Siamesischer Vasall. Die Einwohner unterstehen nicht direkt dem Siamesischen Königshaus, sondern werden von Khmer-Königen administriert und regiert. Zu manchen Zeiten wurden die Khmer-Könige vom Siamesischen Königshaus gekrönt.
1846 Nach dem vierjährigen Siamesisch-Vietnamesischen Krieg auf Kambodschanischem Boden teilten sich beide Länder die Herrschaft über Kambodscha. Vietnam gab sich zwar auf dem Schlachtfeld geschlagen, bleibt aber im Lande und unterstützt von nun an Siam in der Ausübung der Macht über Kambodscha.
1863 Franco – Siamese treaty. Frankreich, inzwischen Kolonialmacht über Süd-Vietnam, erkennt Kambodscha als unter Siamesischem Protektorat stehendes Gebiet vertraglich an.
1867 Franco – Siamese Treaty. Frankreich, inzwischen auch Kolonialmacht über Grossteile Kambodschas, billigt Siam in einem neuen Vertrag nur noch die kambodschanischen Nord-West Provinzen Siem Reap, Battambong und Srisophon zu. Alle anderen Provinzen Kambodschas werden dem Französischen Kolonialreich einverleibt. Man darf davon ausgehen, dass der östliche Teil des Ost-West verlaufende Phnom Dangrek Gebirgszug im Norden Kambodschas als natürliche Grenze zu Siam betrachtet wurde.
1893 Franco – Siamese Treaty. Frankreich kassiert alle Gebiete östlich des Mekong, das heutige Laos, und zwingt Siam während des „Paknam Vorfalls“ mit Kanonen Booten auf dem Chao Phraya Fluss in Höhe des Königspalastes zur vertraglichen Anerkennung.
1904 Franco – Siamese Treaty. Siam muss eine Nord-Provinz Kambodschas abgeben. Preah Vihear liegt im Grenzland dieser Provinz.
Eine gemeinsame Siamesisch-Französische Kommission wird eingerichtet um die Grenzen zwischen Siam und Indochina im westlich technokratischen Sinne zu definieren, d.h. genauestens zu vermessen und zu kartografieren.
1907 Franco – Siamese Treaty. Siam verzichtet in diesem Vertrag auf die Nord-West Provinzen Siem Reap, Battambong und Srisophon, die ihnen in dem Vertrag von 1867 noch zugebilligt wurden, erhält aber Chantaburi, Trat und ein paar Inseln im Süd-Osten des Golf von Siam.
Thailand und die Kolonialmacht Frankreich einigen sich vertraglich auf eine gemeinsame Grenzziehung zwischen Indochina und Thailand basierend auf den Vermessungen und den daraus resultierenden Landkarten.
Das Staatsgebiet Thailands nahm zum ersten mal die Form an, wie wir sie kennen. Die im Jahre 1907 festgelegten Grenzen zwischen Kambodscha, Laos und Thailand gelten heute noch.
Der Haken an der Sache: Siamesen haben weder bei der Vermessung mitgewirkt noch an der Kartenerstellung teilgenommen, sondern beschränkten sich auf logistische und organisatorische Tätigkeiten in der gemeinsamen Kommission. Die technisch aufwendigen und in unwegsamen Gebieten zusätzlich körperlich herausfordernden Grenzvermessungen überließen sie den Franzosen. Die hielten sich zwar, wie verabredet, an die natürlichen Begebenheiten wie Flüsse, Gebirge und Klippen bei der Grenzdefinition, schmuggelten aber eine winzige Ausnahme ein. Nämlich im Phnom Dangrek Gebirgszug zwischen Siam und Kambodscha. Dort wichen sie von der üblichen Grenzlinie entlang einer Wasserscheide ab. Anstatt wie gewöhnlich diese entlang Oberkante Klippe zu ziehen, wurde ein Bach auf dem Hochplateau weiter nördlich zur Grenze zwischen beiden Ländern deklariert. Der wohl nicht gerade Zufall wollte es, dass sich damit die Khmer Tempelruinen von Preah Vihear auf Kambodschanischem Boden befanden.
Den Siamesen ist es nicht aufgefallen, oder es hat sie nicht interessiert. Die Kambodschaner werden es aber sehr wohl registriert haben. Vermutlich waren sie es, die den Franzosen den Tipp während der Grenzvermessung gegeben haben, denn seit der Wiederentdeckung und Renovierung von Ankor Wat war ihr Nationalstolz in Bezug auf solch grandiose Anlagen gewaltig gewachsen.
Zukünftiges Konfliktpotential war damit vorprogrammiert.
1929 Prinz Damrong, ein Sohn von König Monkut, Rama IV, besucht Preah Vihear im Alter von 67 Jahren. Zu seinen Ehren ist der französische Provinz Gouverneur erschienen. Über dem Tempel weht die französische Flagge. Siam protestiert nicht.
1934 – 1935 Erst jetzt, 27 Jahre nach den Franzosen, vermessen die Siamesen die Grenze am Dangrek Gebirgszug selber. Selbstverständlich verläuft die an der Klippenoberkante. Preah Vihear gehört damit zu Siam. Die Karte von 1907 am Preah Vihear Tempel war offensichtlich schluderig gestaltet worden, so die Annahme. Anstatt an der Wasserscheide entlang, führt die rote Linie quer durchs Hinterland. Siam hält dies für einen Flüchtigkeitsfehler. Es werden keine offiziellen Proteste geäußert oder Grenzkorrekturen gefordert. Die alte Karte von 1907 wird weiterhin von den Siamesen vervielfältigt und verbreitet.
1941 Während des 2. Weltkrieges eignet sich Siam, inzwischen Thailand genannt, die drei Nord-West Provinzen Kambodschas mit dem Segen der Japaner wieder an. Wenn schon Weltkrieg, dann richtig. Außerdem, wem sollte eine solch unwesentliche Annexion während dieses globalen Grossereignisses schon auffallen?
1946 Thailand muss die drei Nord-West Provinzen wieder an Kambodscha zurückgeben. Die Grenzen von 1907 sind wieder gültig.
1953 9. November. Kambodscha zelebriert seinen ersten Unabhängigkeitsstag von der Kolonialmacht Frankreich. Die Khmers entdecken in solch geschichtlichen Anlagen wie Ankor Wat und Preah Vihear ihre ehemals nationale Größe wieder und feiern dort ihr wachsendes Selbstbewusstsein. Auch in Preah Vihear. Sie tun dies mit gutem Gewissen. Hatten sie doch die Karten von 1907 sorgfältig studiert. Die Thais mag es überrascht haben und es ging ihnen wohl zum ersten mal ein Licht auf, dass es wohl besser wäre, Landkarten genauestens zu studieren und ernst zu nehmen.
1954 Thailand sieht in diesen Feierlichkeiten einen Kambodschanischen Staatsakt auf Thailändischem Grund und Boden und stationiert Truppen auf dem Tempelgelände des Preah Vihear.
1958 Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Thailand und Kambodscha. Die Lage spitzte sich über die letzten vier Jahre ständig zu und droht in eine militärische Auseinandersetzung auszuarten.
1959 Das militärisch schwache Kambodscha sieht sich in seiner Souveränität verletzt und bittet den internationalen Gerichtshof um Hilfe.
1962 Der Internationale Gerichtshof beschliesst, dass Preah Vihear zu Kambodscha gehöre und beruft sich dabei auf die Landkarte von 1907, die als das berühmte „Annex 1“ an den Gerichtsbeschluss angehängt ist.
Die ausführliche Begründung kreist auf vielen Seiten immer wieder um die gleichen Argumente:
1. Siam war schließlich Teil der gemeinsamen Kommission, die die Grenzen vermessen und die Karten erstellt hat. (Anmerkung des Autors: Wir wissen aber, dass der Siamesische Teil dieser Kommission nicht an diesen Tätigkeiten teilgenommen hatte)
2. Siam/Thailand hat den Landkarten nie widersprochen, sodass die internationale Gemeinschaft und besonders Kambodscha davon ausgehen dürfen, dass Einverständnis herrscht
3. Thailand hätte diese Landkarte adoptiert, indem sie diese offiziell überall im Lande verteilt und immer wieder bei den Franzosen nachbestellt hätte. Außerdem seien sie dem Provinz-Gouverneur von Si Sa Ket vorgelegt worden. Der kenne sich doch wohl in seinem Gebiet aus.
Thailands Gegenargumente waren:
1. Frankreich habe sich nicht an die Abmachung gehalten, die Wasserscheiden, wenn immer möglich, als Grenze zu bestimmen
2. Die Landkarte wäre ja schließlich alleine von den Franzosen erstellt worden und Thailand hätte sie nie offiziell anerkannt.
Im Grunde genommen lassen sich die konträren Sichtweisen auf zwei Aussagen reduzieren.
1. Internationaler Gerichtshof: Thailand hat der Landkarte nie offiziell widersprochen, deswegen ist der Grenzverlauf gültig
2. Thailand: wir haben die Landkarte nie offiziell anerkannt, deswegen ist der Grenzverlauf ungültig
Jeder einzelne möge wählen, auf welche Seite er sich schlagen möchte. Es empfiehlt sich aber dabei zu bedenken, dass Thailand den Wortlaut des Franco-Siamese Abkommens von 1907 höchst königlich mit Rama V unterschrieben hatte.
Im Nachhinein könnte man jetzt zynisch sagen: selber Schuld, aber…
…dieser Streitpunkt zeigt nur, wie tief Thailand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in der traditionellen Betrachtungsweise von Herrschafts- und Einflussbereichen verhaftet war. Dazu wurden keine Grenzsteine oder Landkarten mit roten Linien benötigt, sondern es genügte, wenn ein Dorfältester oder Provinzfürst sich auf die Seite des Siamesischen Königshauses schlug. Die geografischen Flächen dieser Einflussbereiche wurden dabei nie vermessen und auf den Meter gekennzeichnet. Was zählte, waren die Einwohner in diesen Gebieten und deren Verhältnis gegenüber den Herrschenden.
Hinzu kommt, dass die Siamesen die von den Franzosen erstellte Karte nicht auf Herz und Nieren geprüft haben. Sie gingen davon aus, sie wäre nach den vorher vereinbarten Regeln erstellt worden. Diese besagten, dass Wasserscheiden, Flüsse und andere geologische Begebenheiten ausschlaggebend für die Grenzziehung sein sollten, wenn immer möglich.
Hierzu muss man verstehen, dass eine Wasserscheide (watershed) nicht etwa ein Fluss ist, sondern ein Ort, an dem das Wasser potentiell in zwei entgegen gesetzte Richtungen abfließen würde. Ein gutes Beispiel um dies zu veranschaulichen wären Rinnsale, die sich bei Regenschauern bilden. An der Oberkante Preah Vihear Felsplateau würden sie entweder nach Norden Richtung Thailand fließen, nämlich Richtung Eingangstor der Tempelanlage oder nach Süden Richtung Kambodscha die Felswand hinunter. Eine eindeutigere Wasserscheide gibt es nicht. Die genauere Bezeichnung in diesem Fall wäre: Kammwasserscheide.
1970 Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Thailand und Kambodscha
1975 – 1979 Khmer Rouge Terrorherrschaft. Handwerk, Kunst, Wissenschaften und traditionelle Volkstänze und Feste und Theateraufführungen werden mit dem Tode bestraft. Ein Volk von einfachen Bauern sollte es sein. Die Khmer Rouge übernehmen Preah Vihear als militärisch strategischen Ort.
1979 – 1989 Vietnam marschiert in Kambodscha ein und beendet die Khmer Rouge Schreckensherrschaft. Als oft geschäftstüchtige und zielstrebige Menschen sind die Vietnamesen in Kambodscha auch heute noch das, was die Chinesen für Thailand sind.
1991 Erneutes Aufbäumen der Khmer Rouge. Das Kambodschanische Militär übernimmt kurzzeitig Preah Vihear. Bei Gefechten mit versprengten Khmer Rouge stürzt der Haupttempel in der Gallerie durch Granatenbeschuss ein. Nach Beruhigung der Lage wird Preah Vihear kurzzeitig für den Tourismus freigegeben. Wenig später übernehmen die Khmer Rouge Preah Vihear wieder.
1998 Die Khmer Rouge ergeben sich endgültig und verlassen Preah Vihear als ihr letztes Widerstandsnest. Bunker, zurückgelassene Artilleriegeschütze und scharfe und versteckte Landminen zeugen noch heute von dieser Zeit.
1998 Öffnung von Preah Vihear für den Tourismus. Vorsicht Minen! Nicht vom Pfad abweichen!
2000 Juli, sepsabai in Preah Vihear
2001 Thailand schliesst den Zugang von seiner Seite wegen Umweltverschmutzung einer wilden Khmer-Ansiedlung gleich am Grenzbach und dem Fusse des Treppenaufgangs zur Tempelanlage. Es kam zu zahlreichen Krankheitsfällen in den Thaidörfern, die stromabwärts von dem Wasser dieses Baches leben. Die Khmers kamen der Aufforderung, den Bach sauber zu halten, nicht nach.
Fortsetzung folgt.
Aktueller Stand 06.02.2011