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Von Hans Michael Hensel
Bangkok. Es ist im Ausland nur wenig bekannt, daß auch Thailands Jugend in den 1960er Jahren in kritischer Aufbruchsstimmung war. Bekannt sind eigentlich nur noch die Massaker rechtsgerichteter Schlägerbanden im Verein mit dem Militär an der eigenen Bevölkerung von 1973 und 1976. Über diese gut dokumentierten Vorgänge wird heute, vor allem allerdings im Ausland, immer noch viel diskutiert.
Vergleichsweise wenig weiß man dagegen über die Vorgeschichte: Wie konnte es zu diesen Ausbrüchen der Gewalt kommen? Wie konnte die massive staatliche Unterdrückung kritischer Gedanken derart erfolgreich sein, daß es heute immer noch nur wenige „kritischen“ jungen Leute in Thailand zu geben scheint?
Denn während sich damals die Journalisten im Westen in den Klatschblättern über das betont elegant und sympathisch auftretende Thai-Königspaar Sirikit und Phumiphon die Finger wund schrieben, wären schon damals in Thailand — hätte man nur hingesehen —, jede Menge Blutlachen auf den Straßen in Bangkok oder im Dschungel und auf den Feldern abgelegener Provinzen zu beschreiben gewesen. Hunderte, wenn nicht tausende Intellektuelle in Thailand fielen damals der Verfolgung zum Opfer. Berichte darüber waren zur Zeit des kalten Krieges allerdings nirgends im Westen besonders erwünscht.
Einer der Menschen, die damals und noch bis in die 1970er Jahre zum Vorbild vieler thailändischer Studenten geworden waren, denen aber nur ein kurzes Leben beschieden war, hieß จิตร ภูมิศักดิ์ Chit Phumisak. Er wurde am 25 September 1930 in eine einfache Familie in der an Kambodscha grenzenden Provinz Prachinburi hineingeboren (sein vollständiger Geburtsname war Somchit). Er ging auf Tempelschulen, dann auf eine öffentliche Schule in Samutprakan, wo seine Sprachbegabung entdeckt wurde. Chit sprach Thai, Khmer, Französisch, Englisch und Pali.
Später studierte er als Hochbegabter Sprachwissenschaften an der Chulalongkorn Universität in Bangkok, und bewegte sich bald in einem von Spitzeln argwöhnisch beobachteten akademischen Diskussionskreis. Zudem schrieb er Bücher- und Filmkritiken unter den Pseudonymen บุ๊คแมน („Bookman„) und มูฟวี่แมน („Movieman„). Zeitweise wurde er von der Universtität verwiesen, konnte allerdings zurückkehren und sein Studium mit dem Magister abschließen.
Als Student hatte er seine erste Begegnung mit sozialistischen Ideen: 1953 wurde er von der US-Botschaft in Bangkok angestellt, um zusammen mit einem in Bangkok lebenden Amerikaner, William J. Gedney, Marxens Kommunistisches Manifest in Thai zu übersetzen. Mit dieser Publikation wollte man der Thai-Regierung mehr Angst vor den Kommunisten machen, um sie so zu animieren, schärfer gegen sie vorzugehen. Tatsächlich erschienen in den Jahren danach zahlreiche antikommunistische Propagandaschriften, die vor allem das einfache Volk beeindrucken sollten.
1957 erhielt Chit eine Anstellung als Hochschuldozent in Phetchaburi, wurde jedoch schon ein Jahr später, am 21. Oktober 1958, zusammen mit zahlreichen anderen Intellektuellen, als angeblicher Kommunist verhaftet. Grund waren seine anti-nationalistischen und sozial fortschrittlichen Schriften, vor allem das 1957 erschienene โฉมหน้าศักดินาไทย, Chom Na Sakdina Thai, was man in etwa als Gesicht der Elite Thailands (Chom Na = Gesicht, Sakdina = Elite, Würde) übesetzen könnte. Als englischen Titel findet man The Face of Thai Feudalism oder The real Face of Thai Feudalism. Das Buch wurde jedoch nie vollständig in eine westliche Sprache übersetzt.
Dieses sicher antifeudalistische Werk, das er unter dem Pseudonym สมสมัย ศรีศูทรพรรณ Somsamai Sisuttharaphan schrieb, sah die ebenso korrupte wie stramm antikommunistische, US-freundliche Regierung von Sarit Thanarat als Bedrohung an. Unter diesem Machthaber war das Königshaus gerade dabei, wieder die Kontrolle über das 1932 eigentlich verstaatlichte „Familienvermögen“ zu übernehmen, während der alkoholkranke Sarit im Gegenzug zum vielfachen Dollar-Multimillionär mit riesigem Immobilienbesitz und fünfzig (50) legal angetrauten Ehefrauen aufstieg.
Chit mußte über sechs Jahre im Gefängnis verbringen, bevor er wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde. Im Dezember 1964 kam er auf freien Fuß, wurde aber weiter überwacht und bedroht.
1965 tauchte er unter und trat der verbotenen Kommunistischen Partei Thailands bei, die ihren Hauptsitz damals in den Phu Phan Bergen in Sakon Nakhon hatte. Am 5. Mai 1966 wurde er nach der offiziellen Version von „Dorfbewohnern“ in der Nähe des Dorfes Nong Kung im Bezirk Waritchaphum erschossen und seine Leiche beseitigt. In Wirklichkeit handelte es sich bei den Mördern um eine vom örtlichen Bürgermeister abgestellte paramilitärisch-patriotische Schlägerbande sowie um Soldaten.
Erst 1989 wurden seine sterblichen Überreste wieder ausgegraben und nach einer buddhistischen Zeremonie in eine Stupa auf dem Gelände des nahegelegenen วัด ประสิทธิ์สังวร Wat Prasit Sangwon eingemauert. Auf dem Tempel befindet sich heute eine Gedenkstätte.
Chit Phumisak hinterließ in seinem kurzen Leben erstaunlich viele Werke. Die Aufstellung auf seiner thailändischen Wikipedia-Seite umfaßt zahlreiche Bücher in Prosa sowie Gedichte, sprachgeschichtliche und allgemein historische Werke sowie Liedertexte. Er mußte vieles unter Pseudonym veröffentlichen, zum Beispiel benutzte er กวี การเมือง Kawi Kanmueang (= „Politischer Dichter“) und กวี ศรีสยาม Kawi Si Sayam. (Kawi = Dichter; Mueang = Land, Staat; Sayam = „Siam“). Für die Studenten der 1970er Jahre, etwa den Sänger und Bandleader Nga Kharawan, wurde er zu einer Art „Che Guevara Thailands“. Allerdings wurde Chit nie wegen seiner politischer Taten mit dem eigenhändigen Vollstecker selbst gefällter Todesurteile „Che“ verglichen, sondern aufgrund seiner Ausstrahlung.
Sein bekanntestes wissenschaftliches Werk ist das posthum erschienene, 1997 in vierter Auflage gedruckte ความเป็นมาของคำสยาม ไทย, ลาว และขอม Khwam pen ma khong kham Sayam, Thai, Lao lae Khom („Der Ursprung der Begriffe Siam, Thai, Lao and Khom“). Noch vor seiner Verhaftung erschien 1957 ศิลปเพื่อชีวิต ศิลปเพื่อประชาชน Sinlapa phuea chiwit, sinlapa phuea prachachon („Kunst für das Leben, Kunst für die Menschen“).
Chit wurde seit den 1970er Jahren oft als Thailands Che Guevara bezeichnet. Dies ist sicher kein Kompliment für den, der die Geschichte kennt. Es bezog sich allerdings nur auf die äußerliche Ausstrahlung von Chit, die dem Charisma des aus Argentinien stammenden skrupellosen kommunistischen Mörders und Frauenhelden Che wohl tatsächlich ähnelte.
Links zu Chit Phumisak:
Kurzbeschreibung und Literaturhinweise auf Englisch
Thai Writer Network mit einer Veranstaltung zu seinen Ehren (2009)
Video: Lied von Nga Kharawan zu Ehren von Chit Phumisak
Video: Daten aus seinem Leben mit den wenigen überlieferten Bildern